31. Oktober 2020: Es wuselt zwischen den Gräbern, von Ruhe keine Spur. Dabei will ich so gerne in Stille erinnern und schreiben. Viele sind hier, die jährliche Pflicht erfüllen. Das Grab in Ordnung bringen, mit Blumengestecken und Kerzen aufputzen für Allerheiligen. Eine Frau kehrt die Steinplatte eines Grabs drei Reihen weiter unten ab, das Herbstlaub muss weg, alles muss sauber sein bevor am 1. und 2. November die Scharen kommen. Ein nicht gepflegtes Grab zu Allerheiligen? Diese schlechte Nachrede will hier keine/r.
Tränen und Gesichter steigen auf
Der Wind zieht über die Friedhofsmauer, ich spüre ihn nicht, ich sitze auf der Grabplatte. Die Sonne blinzelt durch das Schattenspiel der letzten bunten Blätter des alten Bergahorns, der vor dem Reichenauer Friedhof über die Toten wacht.
Friedhöfe sind Orte der Erinnerung an Verstorbene und an unsere eigene Vergangenheit. Mir steigen die Tränen auf, und Gesichter. Meine Oma, seit 25 Jahren tot. Ossi, mein lieber Arbeitskollege, der heuer im August gestorben ist. Fritz, Frode, mein Gott, wie viele Jahre ist es her? Mein Onkel Sepp. Und natürlich Papa, gestorben 2017. Ich sitze ja auf seiner Grabplatte. Eigentlich sollte man da ja nicht einmal draufsteigen, aus Respekt vor den Verstorbenen, so wurde es mir beigebracht. Heute ist mir das egal, ich sitze gut, die Sonne hat den Stein gewärmt und keiner sieht mich, gebeugt über mein Notizheft.
Die eigene Endlichkeit
Ich bin heute nicht traurig, weil Papa gestorben ist, glaube ich. Ich habe Mitleid mit mir selbst, weil er mich verlassen hat. Der Tod anderer erinnert mich an mein eigenes nahendes Ende und manchmal löst es ein Vorbeihuschen eines Bewusstseins für die eigenen Endlichkeit aus, das mich durchfährt und zittern lässt, nur für einen ganz kurzen Moment. Wäre die Auseinandersetzung mit dem Tod leichter, wenn ich an ein Leben nach dem Tod glaubte?
Allein
Ich hoffe, meinem Papa hat sein Glaube sein Sterben erleichtert. Er starb allein, im Krankenhaus in Baden. Wir sind zu spät gekommen damals. Ich war gerade am Zenit meiner Karriere, zack, ganz oben. Alle Augen auf mich. Die Erwartungen und die Verantwortung erdrückten mich. Ich war so mit mir selbst beschäftigt und konnte mich nicht loslösen und bei ihm sein, in seinen letzten Tagen und Stunden. Ich weiß, dass er Angst hatte vor dem Tod. Und, Scheiße, ja, wir alle rund um ihn fürchteten uns auch vor seinem Tod.
Verdammt!
Papa! Heute, drei Jahre später hier an deinem Grab, denke ich: Verdammt, du hättest ruhig warten können, bis ich am Nachmittag vorbeigekommen wäre, um dich zu besuchen, am 22. März 2020. Verdammt, ich hätte bei dir sein sollen. Irgendjemand von der Familie hätte bei dir sein sollen. Dir die Hand halten, wenn du gehst. Verzeih mir, Papa, dass wir nicht da waren. Verzeih, dass wir uns alle in die Hosen geschissen haben und froh waren, dass es vorbei war.
Die Krankenschwester, die Mama und mich nach der Todesnachricht empfing und uns ermöglichte, uns von seinem kalten Körper zu verabschieden, tröstete uns. Er sei nicht alleine gestorben, sie hätte seine Hand gehalten. Sie hat uns wohl angelogen, aber wir waren dankbar, jemand hatte Papas Hand gehalten.
Allerheiligen 2020, Covid-19:
Ich weine in mein Schreibheft am Friedhof. Und dann steh ich auf, blinzel in die Sonne, wisch mir die Tränen aus den Augen, lächle und denke: „Ha! Scheiß Corona-Virus, du kannst mich mal und Papa kannst du schon gar nichts mehr.“
Nachtrag: Schreibweinen
PS: Diese Erfahrung nenne ich Schreibweinen. Traurig sein oder Trauer schreibend bewältigen kann trösten. Schreiben tut gut, auch und vor allem, wenn es gerade weh tut.
Test
Liebe Ilona, danke dir für den schönen Beitrag!