Schreibrezept 6

Die Rohtext-Strategie

Schreibe einen shitty first draft

Die Rohtext-Strategie wenden viele professionelle Schreibenden an. Eine Methode, die du ausprobieren kannst, wenn du unter Schreibhemmungen leidest. Diese tauchen gerne auf, wenn ein neues Schreibprojekt ansteht. Perfektionismus oder fehlendes Selbstvertrauen können dahinterstecken.

Einfach drauf losstarten und einen shitty first draft (beschissenen ersten Entwurf) zu schreiben, kann helfen. Ich weiß, das sagt sich leicht, aber es funktioniert! Was steckt dahinter? Gute Texte entstehen selten im ersten Wurf. Sie brauchen Zeit und mehrere Überarbeitungsschritte. Je flüssiger sich ein Text liest, desto wahrscheinlicher ist, dass jemand viel Hirnschmalz (österr. für viele Gedanken) und Zeit investiert hat.

Wie geht die Rohtext-Strategie?

Ich sage mir beim Start eines Schreibprojekts: „Ilona, du musst nicht gleich den Pulitzerpreis mit diesem ersten Entwurf gewinnen. Schreib einfach etwas hin, du kannst es später überarbeiten.“

Diese Regeln des Freewritings, einer Creative-Writing-Methode, befolge ich:  

  • Recherchieren, Ideen und erste Gliederung notieren.
  • Wecker auf 20 Minuten einstellen. Hinweis: Probiere auch andere Zeit-Einheiten aus. Je nach Übung, Textsorte und Thema kann das variieren.
  • Jetzt einfach losschreiben.
  • Nichts durchlesen.
  • Vergiss die Rechtschreibung oder Grammatik, einfach weiterschreiben.
  • Ich habe im Hinterkopf: Niemand liest meinen „shitty first draft“ und kann mich dafür verurteilen oder auslachen. Ich werde es überarbeiten.
  • Nach Ablauf der Zeit den Text beenden. Durchlesen und die stärksten Stellen anstreichen.

– Jetzt kommt ein wichtiger Punkt –

  • Text weglegen, abspeichern und vom Schreibplatz aufstehen.
  • So distanzierst du dich vom ersten Entwurf.
  • Je nach Zeitvorgabe oder drohendem Abgabetermin den Text liegen lassen. Gerne einen ganzen Tag, es reichen aber auch zehn Minuten für einen Kaffee oder ein Telefonat, wenn es schnell gehen muss. Noch besser: ein kleiner Spaziergang.
  • Überarbeiten. Liegen lassen. Überarbeiten. Liegen lassen. Überarbeiten. Abschließen.

Tipp:

Je mehr Zeit zwischen dem Rohtext und dem Überarbeiten liegt, desto besser. Warum? Dein sensibles Schreibherz ist dann nicht mehr so verwundbar. Überarbeitungsschleifen ziehe ich ein, bis ich zufrieden bin beziehungsweise bis ich den Text abgeben kann oder muss.

Probiere es aus.

Schreibe deinen ersten Entwurf ohne Anspruch auf Perfektion. Wenn du dir das erlaubst, hast du gewonnen: Du hast Rohtext produziert, mit dem du weiterarbeiten kannst bis zu einer für dich zufriedenstellenden Endfassung.

PS: Nicht alle Rohtexte sind schlecht! Dein erster Entwurf kann auch gut werden und nur mehr einen zarten Feinschliff brauchen. Das bemerkst du beim Überarbeiten. Wenn du jemanden an der Hand hast, der dir konstruktives Feedback gibt, noch besser.